Deine Geschichte in der Ich-Erzählung oder als Bericht
Bei einer Geschichte in der Ich-Perspektive steht Dein eigener Erzählstil im Vordergrund. Du bist Erzähler:in und kannst kommentieren, werten, Szenen schildern. Da ich stellvertretend für die späteren Generationen stehe, stelle ich Fragen, falls mir etwas unklar ist. Manchmal ist es gut, gemeinsam Themen zu strukturieren, zu sortieren, zu priorisieren. Oft fällt es schwer, stringent zu erzählen, wenn man selbst mitten in der Geschichte drinsteckt. Und vielleicht wirft manche Rückfrage auch weitere Erinnerungen auf, die wichtig für die Erzählung sind. Ein Bericht ist in jedem Fall sachlicher als eine Reportage.
Hier ein Auszug, aus meiner Lebensgeschichte, die darstellt, wie ein Bericht aussehen könnte:
Trudl
Trudl war zum Zeitpunkt der Flucht 32 Jahre alt und geistig auf dem Stand eines Kindes – sie hatte als Kind die „englische Krankheit“, sagte man. Gemeint war Rachitis, ein Vitamin-D-Mangel, der zu weichen Knochen führt. Es kann dann bei Babys passieren, dass sich die Schädeldecke zu schnell schließt, was zu verminderter Lernfähigkeit und letztlich zu intellektuellen Behinderungen führen kann, da das Gehirn nicht mitwachsen kann. Trudl – oder eigentlich Gertrud Tschorschke – war die Schwester meiner Mutter. Fundierte medizinische Untersuchungen gab es nicht, zumindest nicht, dass ich wüsste. Man nahm es einfach so hin, dass Trudl eben Trudl war. Sie konnte weder lesen, noch schreiben, ob sie jemals auf eine Schule geschickt wurde, weiß ich nicht. Sie hatte keine Zähne und erfand ihre eigene Sprache, die nur ihre Familie verstand. „Määijge“ hieß Mädchen und so bezeichnete sie mich seit meiner Geburt. „I ni wei hier“ bedeutete „das weiß ich nicht“.
Unsere Trudl hatte jedenfalls das Zeug zum bunten Hund im Dorf, denn jeder kannte sie. Sie war in ihrem Wesen grundfreundlich und plauderte mit jedem übern Gartenzaun, auch wenn ihr Gegenüber sie oft nicht verstand. Selbst wenn sie mal böse auf jemanden war („bääijne hier“), klang es so, dass man ihr niemals böse hätte sein können. Und wenn sie strahlte, dann war es ein weltumspannendes Strahlen, etwa, wenn sie eine neue Bluse geschenkt bekommen hatte an Weihnachten und mich fragte, wir mir die Bluse gefiele („Fell hier, Määijge?“) – es war ein zahnloses, vor Freude strahlendes Lachen unter dem Weihnachtsbaum, das ich nie vergessen werde.
Dabei konnte Trudl etwas, was keiner von uns fertigbrachte: fast olympiareif mit hohem Tempo hob sie den Mittelfinger über den Zeigefinger, dann den Ringfinger über die beiden zuvor überlappten Finger, dann noch den kleinen Finger über alle zuvor schon übereinandergehakten Finger und versteckte den Daumen darunter. Dieses Kunststück vollbrachte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit mit beiden Händen. Wir Kinder übten das wie verrückt, aber das konnte tatsächlich nur Trudl mit ihren durch die Rachitis weich gewordenen Knochen.